Dieses Buch wollte ich eigentlich schon vor Jahren lesen. Ich hatte es sogar schon zuhause in meinem Regal stehen und habe es dann wieder aussortiert, weil mich die 960 Seiten in einem literarischen Buch doch eher abgeschreckt haben. Die Neugierde hat mich aber nie losgelassen, und jetzt, wo das Buch wieder so einen Hype erfährt, konnte ich nicht anders als es doch zu lesen. Es wird aber definitiv unter den Lesenden nicht ohne Grund auch „Ein wenig Leiden“ genannt. Das Buch ist nicht ohne, weshalb ich euch gleich noch eine (definitiv nicht vollständige) Inhaltswarnung aufzähle.
Klappentext
„Ein wenig Leben“ handelt von der lebenslangen Freundschaft zwischen vier Männern in New York, die sich am College kennengelernt haben. Jude St. Francis, brillant und enigmatisch, ist die charismatische Figur im Zentrum der Gruppe – ein aufopfernd liebender und zugleich innerlich zerbrochener Mensch. Immer tiefer werden die Freunde in Judes dunkle, schmerzhafte Welt hineingesogen, deren Ungeheuer nach und nach hervortreten. „Ein wenig Leben“ ist ein rauschhaftes, mit kaum fasslicher Dringlichkeit erzähltes Epos über Trauma, menschliche Güte und Freundschaft als wahre Liebe. Es begibt sich an die dunkelsten Orte, an die Literatur sich wagen kann, und bricht dabei immer wieder zum hellen Licht durch.
Meine Meinung
Der Klappentext wird der Heftigkeit des Inhalts überhaupt nicht gerecht. Deshalb habe ich hier eine von mir erstellte Inhaltswarnung für euch, für deren Vollständigkeit ich nicht garantieren kann. Triggerwarnung: Missbrauch (sowohl an Minderjährigen als auch an Erwachsenen), sexualisierte Gewalt, Gewalt im allgemeinen, Folter, sexuelle Übergriffe und Vergewaltigung (auch von mehreren Personen gleichzeitig), Pädophilie, Zwangsprostitution, Geschlechtskrankheiten, Vernachlässigung, soziale Abhängigkeit, Trauer, Suizidgedanken und Suizid, Depression, Schmerzen, Wunden und Verletzungen, Amputation. Grausamkeit ohne Ende.
Puh, soll ich überhaupt noch weitererzählen? Nach all den Lesevlogs, in denen die Lesenden weinend vor der Kamera saßen und das Buch zuklappten, war mir klar, dass das Buch heftig werden würde. Ich habe aber mehr eine emotionale Betroffenheit erwartet, wie es nun einmal häufig ist. Auf diese starke Grausamkeit war ich nicht vorbereitet, deshalb finde ich es umso wichtiger, das in meiner Rezension herauszustellen.
Der Anfang liest sich nämlich noch wirklich gut. Wir bekommen einen Einblick in die Freundesgruppe und jeder Charakter – bis auf Jude – wird etwas eingehender beleuchtet. Ich fand es von Anfang an nicht besonders spannend, aber es hat sich gut lesen lassen, weshalb ich erst einmal dran geblieben bin. Vor allem das Kapitel, in dem es um JBs Kunst ging, hat mich sehr beeindruckt – so sehr, dass ich direkt selbst mit dem Malen loslegen wollte.
Dieser anfängliche Eindruck lässt dann allerdings nach. Das erste Viertel zieht sich. Es ist sehr langatmig und auch jetzt nach Beenden des Buches finde ich, dass es gut 300 Seiten kürzer sein könnte. Der Fokus liegt auf so vielen unterschiedlichen Charakteren, deren Lebensgeschichten mich nicht unbedingt interessiert haben. Und die nach allem, was man über Jude erfährt, sowieso verblassen und absolut unwichtig erscheinen.
Nach einem Viertel des Buches war ich also schon mehrfach kurz davor, das Buch doch wieder abzubrechen. Aber bei ca. 24% kommt der Knall. Während Jude anfangs lediglich als Teil der Freundesgruppe mit vielen Geheimnissen erscheint, rückt seine Vergangenheit nun zum ersten Mal in den Fokus. Zunächst nur mit Andeutungen darüber, wie er im Kloster aufgewachsen ist und bei ungehorsam mit Gewalt gezüchtigt wurde. Man erfährt noch nicht besonders viel und trotzdem war das der Moment, in dem die Autorin mich eingewickelt hat. Denn ab da wirken Judes Geheimnisse so nah, so als würden sie sich gleich alle offenbaren. Obwohl es noch um die 700 Seiten braucht, bis wir wirklich alles wissen.
Im Rückblick ist „Ein wenig Leben“ eine Aneinanderreihung langatmiger Szenen, unterbrochen von purer Grausamkeit. Die Triggerwarnung habt ihr oben schon gelesen, ich will nicht weiter darauf eingehen, weil ich ehrlich gesagt wegen diesem Buch schlecht geschlafen habe. Ich hatte keine Albträume davon, aber ich habe doch gemerkt, wie sehr ich das Gelesene im Schlaf noch verarbeitet habe.
Ich mochte das Buch nicht. Überhaupt nicht. Und trotzdem konnte ich nicht aufhören zu lesen. Inhaltlich ist „Ein wenig Leben“ wirklich schrecklich. Ich hätte mir die Grausamkeiten in meinen kühnsten Träumen nicht ausmalen können. Handwerklich fand ich das Buch aber eher nur okay. Wie bereits erwähnt, liest es sich anfangs sehr gut. Man kann gut in die Geschichte eintauchen (soweit man das denn möchte), aber ich fand es auch sehr verwirrend geschrieben. Es gibt wahnsinnig viele Zeitsprünge, die nur teilweise mit einem neuen Kapitelanfang oder einem Sternchen versehen sind. Manchmal finden sie auch mitten in einem Absatz statt und das hat mich ehrlich gesagt wahnsinnig verwirrt. Auch Judes Vergangenheit wird nicht chronologisch aufgedeckt, was ich erzählerisch sogar nachvollziehen kann. Was ich nicht verstehe, sind die Perspektivwechsel vom Er/Sie/Es-Erzähler zum Ich-Erzähler und wieder zurück. „Ein wenig Leben“ wirkt wie ein riesiges Puzzle, das man einmal kräftig durchgeschüttelt hat, was leider nicht so ganz mein Fall ist.
FAZIT
Nach dem Beenden des Buches fühle ich mich schwerelos und ausgelaugt zugleich. Es war anstrengend dieses Buch zu lesen, dessen Inhalt so viele Schrecken bereit hält. Aber ehrlich gesagt bin ich einfach nur erleichtert, dass es jetzt vorbei ist. Für mich und für die Charaktere. Ich kann den Reiz dieses Buches verstehen, ich konnte selbst ja auch nicht aufhören zu lesen. Aber den Hype verstehe ich nicht, denn es war einfach nur schrecklich.
Hat sich das Lesen dieses Buches gelohnt? Ich bin mir nicht sicher. Immerhin ist meine Neugierde jetzt gestillt, aber Spaß gemacht hat es mir nicht. Und ich hatte auch irgendwie anderes erwartet. Ich dachte, „Ein wenig Leben“ wäre mehr. Würde mir mehr geben, mehr mit mir machen. Aber es hat mich einfach nur erschüttert, wie viel Grausamkeit zwischen diesen Seiten steckt. Es war schrecklich und mir persönlich auch irgendwie einfach zu viel.
„Ein wenig Leben“ von Hanya Yanagihara
Einzelband | Literarisch | 960 Seiten
gelesen im Mai 2024 | 13 Tage gelesen
★★★
Ich habe über das Buch mehrfach gehört, dass es eben grausam ist und dass es absichtlich so geschrieben ist, dass es emotional machen soll und eben nicht mehr. Das hat mich bisher immer abgeschreckt und deine Rezension zeigt mir, dass ich damit richtig liege ^^“
Ja, das ist leider definitiv so. Ich habe letzte Woche „Notizen zu einer Hinrichtung“ gelesen, dass auch tragische Inhalte hat, sich in manchen Themen mit „Ein wenig Leben“ überschneidet. Das Buch hat mir aber so viel besser gefallen, weil es auch Emotionen in mir ausgelöst hat, aber nicht so starke, schockierende wie „Ein wenig Leben“. Das Buch soll wohl wirklich nur Schocken und dadurch ist es einfach nicht meins.
Hallo Kate, ich wage mich an das Buch einfach nicht heran, auch wenn ich durchaus Bücher lese, die nichts für schwache Nerven sind. Aber da hier viel Traumaerfahrung konsumiert wird, muss man sich dazu in der Lage fühlen. Dass die diese Grausamkeit zu viel war, kann ich absolut nachvollziehen, zumal das Buch nicht wenige Seiten hat.
Zeilentänzerin
Ich denke auch, dass man sich für dieses Buch bereit fühlen muss. Es ist nämlich wirklich sehr emotional und löst beim Lesen starke Gefühle aus. Hauptsächlich Schock, aber dadurch ist es einfach sehr intensiv. Es ist wirklich geballte Traumaerfahrung, das muss man lesen können und auch wollen.